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Roland Tüscher

«Wir haben kein Recht, Autorität zu erzwingen: Erste Gemeinschaft, die Organisation mit Freiheit anstrebt.»[1]

Eine «sorgfältige Korrespondenz jedes einzelnen» Mitglieds [1./8.4.][2] zog Rudolf Steiner für die Aufgabe des Nachrichtenblattes der Anthroposophischen Gesellschaft in Betracht. Es war seine allererste Charakterisierung dazu. Damit war zugleich der Schwerpunkt gesellschaftlicher Bildungen aus Anthroposophie benannt: das Individuum. Denn, so das soziologische Hauptgesetz Rudolf Steiners:

«Die Menschheit strebt im Anfange der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen.»[3]

Warum sollte sich das Individuum heute immer noch den Interessen der wirtschaftlichen, politischen und geistigen Autoritäten und Verbände unterordnen? Es gibt dafür keinen legitimen und zeitgemässen Grund. Wirklich moderne gesellschaftliche Bildungen stehen vor der Aufgabe, die Autonomie der Individuen zu einem tragfähigen Zusammenwirken zu bringen – so war die Anthroposophische Gesellschaft von Rudolf Steiner, gerade auch bei deren Neugründung 1923 (Weihnachtstagung) intendiert.

Am Beispiel des Nachrichtenblatt-Impulses: es ging weder um eine vorgegebene Korrespondenz-Vorstellung, ‹wie es für alle sein müsste› oder ‹wie man sich am besten verständigt›, noch um generelle Bedürfnisse des Verbandes, um das, ‹was die Institution braucht›. Es sollten nicht die Menschen für die Institution da sein, sondern die Institution für die Menschen, für das Individuum. Ohne diese Grundrichtung der Befreiung des Individuums von gesellschaftlichen Zwängen aller Art wird weder eine Anthroposophische Gesellschaft, noch ihr Nachrichten-Organ eine zielführende Entwicklung nehmen können – denn dann huldigt sie dem Grundsatz: dem Interesse des Verbands ist dasjenige des Individuums unterzuordnen.

Wie sah dementsprechend die von Rudolf Steiner intendierte, freiheitliche Organisation der Mitglieder-Korrespondenz dieser Gesellschaft aus?

Freie Autorisierung der Korrespondenten als der ‹Äussere-Kräfte Vorstand›

Die Korrespondenten des Nachrichtenorgans wurden weder von der Mitgliederversammlung gewählt, noch vom Vorstand angestellt. Nicht von Amts wegen oder vertraglich verpflichtend gestaltete sich das Arbeitsverhältnis, sondern frei von all diesem. Wirtschaftliche Anreize, sowie klassische Karriere- und Positionsaussichten entfielen.

Anstelle eines gewöhnlichen Arbeitsvertrags oder Ehrenamtes – in denen das Individuum dem Institutionsinteresse untergeordnet wäre – wurden für die Korrespondenz-Aufgabe bestimmte Persönlichkeiten [3.9.ff.] dazu aufgerufen, eine «freie Selbstverpflichtung» [3.9.] einzugehen, das heisst: Korrespondent wurde, wer von Rudolf Steiner dafür als befähigt gesehen wurde und wer die anstehende Aufgabe aus seiner Individualität, aus sich heraus, frei, wollte.

Der Aufruf Rudolf Steiners an die potentiellen Korrespondenten erfolgte nicht in inoffiziellen Vorabsprachen, sondern fand im Plenum vor allen anwesenden Mitgliedern «spontan» statt. Weder sicherte sich die Leitung vor der Versammlung bezüglich Wahl und Zusagen der Korrespondenten ab, noch entzog sie den Mitgliedern die sofortige Kommunikationsmöglichkeit zu gesellschaftlichen Vorhaben, denn die damalige Versammlung wurde von Rudolf Steiner permanent dazu aufgefordert, Rückmeldungen und Anliegen zum laufenden Gründungsprozess zu geben.[4]

Sodann gab es für den Korrespondenten-Kreis keine Beschränkung auf Funktionäre der Gesellschaft. Der Unternehmer Joseph van Leer etwa, an den Rudolf Steiner in erster Linie [3.12./3.13.] als Korrespondenten dachte, oder die Erziehungswissenschaftlerin Millicent Mackenzie, bekleideten zu jenem Zeitpunkt keine Funktion in der Anthroposophischen Gesellschaft. Nicht Ämter (also Verbandsfunktionen, Gruppenfunktionen) ermöglichten die Autorisierung, sondern individuelles Vertrauen, individuelle Anerkennung eines Menschen gegenüber dem andern Individuum und seinen Befähigungen. Dieses führte zur freien, verbindlichen Zusammenarbeit, zu einer freien Autorisierung.

Für das Korrespondenten-Netzwerk wurden gerade im Umgang mit der allgemeinen Kultur der ausser-anthroposophischen Welt erfahrenste und fähigste Persönlichkeiten aufgerufen und autorisiert. Dies waren:

Joseph van Leer, Henry Monges, Harry Collison, Millicent Mackenzie, Karl Ingerö, Willem Zeylmans van Emmichoven, Alice Sauerwein, Baronin Emmeline de Renzis, Charlotte Ferreri, Lina Schwarz, Ludwig Graf Polzer-Hoditz, Dr. Carl Unger, Emil Leinhas, Dr. Hans Büchenbacher

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Deutlich ist: Die individuelle Befähigung zur Repräsentanz der Anthroposophie war ausschlaggebend. Es waren Persönlichkeiten, welche mitten im Berufsleben standen und die Überschusskräfte für die Vertretung der Anthroposophie in der Öffentlichkeit mobilisierten [3.12./3.13.].

Wer aber stellt die individuellen Befähigungen für die Repräsentanz fest? Eine entscheidende Frage für eine Organisation mit Freiheit. Rudolf Steiner hat weder «konkret» noch «allgemein» gesagt, wie das alles zu machen ist.

Für die Art der Berichterstattung an die Redaktion wurde konsequent darauf verzichtet, «Rubriken» [4.5.], also Themenstandards einzurichten. Solche verallgemeinernden Rahmenbedingungen würden das Individuelle in den Hintergrund treten lassen. Die Korrespondenz-Aufgabe sollte daher gerade darin gesehen werden, etwa wöchentlich einen berichtenden, aus dem «ganz Individuellen» [4.1.] gestalteten Brief an die Redaktion zu schreiben: «Wie es einem ums Herz ist» und «mit allen menschlichen Schwächen» [4.5.].

Da kein arbeitsvertragliches «Anstellungs-Verhältnis» der Korrespondenten vorlag, gab es kein autoritatives Verhältnis der Leitung zu lohnabhängigen Korrespondenten. Es wurde hier an Stelle des Verbands-Interesses die rein menschliche Verbindlichkeit gesetzt, in gegenseitiger Freiheit: eine Zusammenarbeit «in enger Seelengemeinschaft mit dem Vorstand» [3.5.] wurde in Aussicht genommen.

Und mehr noch: die Korrespondenten gehörten zur «Spitze» der Gesellschaft. Sie wurden dem Dornacher ‹Zentral-Vorstand› gleichgestellt: als der «ganz gleichwertige ‹Äussere-Kräfte Vorstand›» [3.10.] (s. Abbildung). In der peripher-gleichwertigen Vorstands-Verantwortung sah Rudolf Steiner also Persönlichkeiten, welche er zugleich befähigt sah, die Korrespondenz für das Nachrichtenblatt zu gestalten.

Die Korrespondenten, so wie «alle von den Gruppen gewählten Funktionäre» [d.h. auch Generalsekretäre, Zweigleiter, …] («wenn diese … herkommen hier nach Dornach») hatten «als beratende Mitglieder» freien Zutritt zu den Vorstandssitzungen am Goetheanum in Dornach [3.7.1.].

Rudolf Steiner kommentierte diese seine Intention: «Also in die ganze Sache soll Leben hineinkommen» [3.7.1.]. Ständig wechselnde Besetzungen in den Vorstandssitzungen waren veranlagt, je nach dem, wer aus der Peripherie in Dornach anwesend wäre. An ein gewöhnliches, abgeschlossenes Vorstandsgremium, welches geheim tagt, war nicht gedacht. Die Interessen aller Verantwortlichen sollten sich in den Dornacher Vorstandssitzungen frei begegnen, nach je eigenem Verantwortungsgebiet: leitender Zentral-Vorstand vor Ort, gleichberechtigt leitender Peripherie-Vorstand und beratende Gruppenverantwortliche wenn vor Ort. Es gab keine allgemeinverbindliche Leitungsstruktur, welcher die Interessen der Individuen geopfert wurden.

Die Auswahlkriterien für diesen «Korrespondenten-Vorstand» und dafür, wer an den Vorstandssitzungen in Dornach teilnehmen durfte, orientierten sich daher weder an der Sicherstellung der «Macht» der Zentrale, noch an verwaltungsmässig-bürokratischen Forderungen (wo der einzelne eine austauschbare Arbeitskraft ist und eine leer gewordene Stelle nicht aufgrund individueller Befähigung neu definiert wird).

Derart war Rudolf Steiners Verständnis eines Arbeitens «aus dem Realen – nicht aus dem Prinzipiellen und Strukturellen» [3.8.]. Damit stand der Mensch in seiner individuellen Verantwortungspraxis im Mittelpunkt der Sache und die Auswüchse gruppen- und verbandsorientierter Prinzipien und Strukturen (Sektiererei, Karrierestreben und Sicherung der Führungsposition) wurden paralysiert: so entstand eine freiheitliche Organisation und deren moderne Korrespondenz.

In einer wirklich modernen Organisation soll das Kollektiv nicht den Mut des Einzelnen einschränken oder gar unterdrücken: «Lebenlassen im Verständnis des fremden Wollens,»[5] eine der Grundmaximen der freien Menschen nach Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit, kommt hier zur Erscheinung. Nachdem solche Grundbegriffe Rudolf Steiners seit über 100 Jahren bekannt sind und gewirkt haben, kann heute immer noch gesagt werden: es braucht Mut, sich in einem Verband, einer Gesellschaft nicht in erster Linie auf das Prinzipielle und die Strukturen zu verlassen. So wie eine Organisation mit Freiheit im hier skizzierten Sinne durch solche Strukturen gar nicht erst zu entstehen vermag, so verschwindet sie in jedem Ansatz sofort, wenn das Persönliche, etwa durch Selbstverwirklicher, eintritt. Demgegenüber eine frei-verbindliche Selbstverpflichtung als Kultur aufzubauen, fordert zureichend viel Einsicht in deren Grundbedingungen. Und dazu gehört, als eine notwendige Bedingung für Freiheit, dass diese Selbstverpflichtung gegenseitig ist. Meine Verlässlichkeit gegenüber dem andern ermöglicht die Freiheit des andern, also wiederum seine freie Selbstverpflichtung.

Der Vorstand in der Korrespondenz-Aufgabe

Es gab für den Vorstand kein bürokratisches Delegieren der gesellschaftlich-journalistischen Korrespondenz-Aufgaben an dafür abgestellte Vollzeit-‘Profis‘: Er liess nicht für sich schreiben. Das Nachrichtenblatt lebte als zentralste gesellschaftliche Aufgabe, war ‹Chefsache›. In voller Verantwortung der Entwicklung der Gesellschaft gegenüber waren es Rudolf Steiner und Albert Steffen, beide im Vorstand der Gesellschaft, welche sich der Bearbeitung und Veröffentlichung der Korrespondentenberichte ihrer peripheren Vorstandskollegen widmen wollten [4.4./9.3.].

Auch die Frage des Umgangs mit der Medien-Macht wurde offenbar von Anfang an bedacht: anstelle verdeckter Manipulation wollte die damalige Leitung der Gesellschaft fortwährend ihre Initiativen, «alles, was der Vorstand sich denkt, tut und gerne tun möchte» [3.2.], ihre eigentlichen Intentionen also, «offiziell mitteilen» [3.1.]. Die Mitglieder wurden, anstelle eines passiven Medienkonsums, beherzt dazu aufgerufen, bei der Redaktion alles einzureichen, wovon sie glaubten, die ganze Gesellschaft solle es wissen [9.1./10.2.].

Auch das gesellschaftliche Wirken, das «fortwährende lebendige Hinauswirken» [3.3.] des Vorstands durch das Nachrichtenblatt, erhielt eine besondere Umbildung konventionell-zentralistischer Führungskonzeption. Grundlegend war die individuelle Initiative der einzelnen ‹Zentral-Vorstände› [3.1.], jedoch ebenso grundlegend zusammen mit dem Zurückwirken [3.4.] des ‹Äussere-Kräfte Vorstands›. Deren Erfahrungen und deren Beurteilungen der Weltlage je vor Ort in der Peripherie [9.5.] war am Zentrum für die gemeinsam zu pflegende Berichterstattung gefragt.

Die Verhältnisse je vor Ort kennt derjenige am Besten, der dort lebt und sich mit den Gegebenheiten täglich verbindet. Dies gilt für die Verantwortung in der Peripherie ebenso, wie für diejenige am Zentrum. Wer als Vorstand am Zentrum arbeitet, vermag diese tägliche Verbindung mit den Ereignissen in der Peripherie draussen, überall vor Ort in der Welt sozusagen, selbstverständlich nicht zu leisten. Wer in der Peripherie lebt und arbeitet kann wiederum nicht die soziale und geistige Kompetenz für das alltägliche Geschehen am Zentrum ausbilden.

Das Reisen muss aufhören, sagte Rudolf Steiner einmal für die Arbeit des Zentral-Vorstands, oder an anderer Stelle: «die Vorstände müssen in Dornach wohnen» [3.10.]. Dies sind Sachbedingungen, die sich aus der skizzierten Aufgabendifferenzierung nach Peripherie und Zentrum ergeben.

Deutlich kann aber auch werden: Das Zentrum ermöglicht im Vertrauen die individuell-autonom gestaltete Arbeit der Peripherie. Es gibt kein Verbandsinteresse, welches den einzelnen, in der Peripherie Tätigen, in seiner Autonomie steuert oder auch nur im Geringsten berührt.

Der Doppelstrom der Arbeit zwischen Peripherie und Zentrum

Als Bild für dieses Sozial-Geschehen stand der Blutumlauf des menschlichen Organismus: die Zentrifugalkräfte und die Zentripetalkräfte brauchen sich gegenseitig. Dem frei hinauswirkenden Strom der Zentral-Initiative sollte die freie, periphere Initiative entsprechen. Bis hinein in die erwähnte, völlig neuartige Konzeption eines nach Peripherie und Zentrum organisierten Vorstands. Nur zusammen bildeten sie ein Ganzes [3.4.]: ein weiteres Element der erstrebten Organisation mit Freiheit.

Die rhythmisch-wöchentlich den Strom der Arbeit orientierend-impulsierenden Gesichtspunkte und Beiträge des Zentrums (Leitsätze, Briefe an die Mitglieder, Aufgabendarstellung der Hochschule) gingen heraus an die Peripherie. Dort wurden sie autonom und je individuell aufgegriffen, auch in Arbeitsgruppen (Zweigen, usw.). Die dadurch angeregten neuen Erfahrungen und Erkenntnisse der Peripherie sollten individualisiert und derart bereichert dem Zentrum wieder zuströmen.

Allerdings nicht zur Erhaltung der Institution als solcher, sondern «damit die Anregungen für die gesellschaftliche Arbeit nicht nur vom Zentrum, sondern auch von der Peripherie ausgehen» [3.7.]. Für künftige Sozialgestaltungen kann gesehen werden: auf Zentrum und Peripherie braucht nicht verzichtet werden, denn diese müssen nicht zwingend in einem Diktat der Mehrheit oder in einem Zentralismus enden. Die Verbreitung von Zentralismen und Unterdrückung des Individuellen in unserer Zivilisation heute führt häufig zum Bedürfnis nach Ausgleich, nach Befreiung, und es werden dezentrale Strukturen gefordert, wo jeder reinreden kann und langfristig-solide Verantwortlichkeiten untergraben werden. Das hier skizzierte atmende Leben zwischen Zentrum und Peripherie, in klarer Differenzierung bleibender Verantwortlichkeiten, hebt jedoch sowohl die Nachteile des Zentralismus wie der dezentralen Formen auf, nutzt deren Vorteile und mündet in eine freiheitliche Individual-Gesellschaft.

Das Nachrichtenblatt war als wöchentlich [3.11.] erscheinendes Blatt dynamisch veranlagt und sollte zeitnah [2.] berichten. Der Rückstrom von der Peripherie zum Zentrum mündete konzeptionell darin, dass den Korrespondenten «jede Woche eine Antwort vom Vorstand im Nachrichtenblatt» [4.7.] in Aussicht gestellt wurde. Aktive Transparenz war damit veranlagt: man war als Mitglied permanent und zeitnah im Bilde, wie die Leitung auf die Gesamtentwicklung der Gesellschaft schaut, wie sie diese aufgriff und verantwortete, und was von den Mitgliedern und den Korrespondenten in der Gesellschaft lebte.

Die Anregungen aus der Peripherie sollten also durch die zentrale Herzfunktion wahrgenommen und wieder impulsierend, neubelebend, erfrischend an die periphere Mitgliedschaft strömen. Deutlich am Doppelstrom der Korrespondenz-Aufgabe wird: Nicht der Auftrag einer Mitgliedschaft sollte von der Leitung, vom Vorstand bloss ausgeführt werden, wie in einem gewöhnlichen Verband oder Verein. Auch nicht umgekehrt: nicht den Vorgaben eines vereinsmässigen Vorstands sollte von den Mitgliedern gefolgt werden.

Beides wäre Verwaltung, einmal top-down, einmal down-top. «Kein formal Verwaltungsmässiges» [37./38./39.] jedoch war vielmehr eine Kernforderung der Gesellschaftsneugründung. Es handelte sich Rudolf Steiner nicht um Beauftragung im vereinsmässigen Sinne, dienend dem allgemeinen Verbandsinteresse, sondern um Initiative aller. Die individuelle Intuition und das individuelle Sich-Verbinden mit der Intuition für die Tat, also die völlige individuelle Freiheit stand damit an der Spitze der gesellschaftlichen Idee – kein Konzernziel, kein moralisches, kein kulturelles Ziel im programmatischen Sinne «für alle Mitglieder» sollte durch die Gesellschaft verwirklicht werden.

Kein Bekenntnis (auch nicht zu einem ‹Grundstein›), sondern allein die individuelle Intuition und Idee (auch aus dem ‹Grundstein›) sollte walten.

Man könnte dies mit blosser anarchischer Macht jedes beteiligten Individuums oder mit völliger sozialer Beliebigkeit verwechseln – wenn da nicht jene dazu gehörige neue, soziale Verbindlichkeit gewesen wäre. Nur was von solcher individueller Initiative vom Umkreis, von den Vorstandskollegen wie von den Mitgliederkollegen, frei anerkannt und frei aufgenommen würde, würde in Wirksamkeit treten, verwirklicht werden. «Kein Wirken von Oben herein» [15.4.].

«Sehen Sie, ich möchte sagen: Dieser Vorstand, der in Dornach zu Weihnachten gebildet worden ist, der beruht auf einer Art hypothetischen Urteils. Wenn die Gesellschaft aufnehmen will das, was er tut, dann wird er der Vorstand sein; wenn sie es nicht aufnehmen will, dann wird er überhaupt nichts sein.»[6]

«Nichts» – man muss es zweimal lesen. Das widerspricht allen Konventionen ‹heutiger› Organisationsentwicklung – welche eben immer noch machtdurchsetzt ist, da sie auf Durchsetzungsmittel für Initiativen nicht verzichtet. Eine Organisationsentwicklungs-Idee, der man sich unterwirft, bzw. deren Anerkennung gefordert wird, ist sozial schliesslich genauso unfruchtbar und unzeitgemäss wie autoritatives Wirken in Form einer Person oder einer Chefstellung.

Eine solche freiheitliche Führung in einem sozialen Organismus ist nur zu haben bei intensivstem gegenseitigen Interesse und aktivster gegenseitiger Beteiligung [9.8./9.9.]

der Mitglieder:

«In der Teilnahme an der Arbeit am Goetheanum durch die gesamte Mitgliederschaft wird die beste Gewähr für das Gedeihen der Gesellschaft liegen.[7]

Des Vorstands:

Und der Vorstand wird bestrebt sein, alles, was durch die Mitglieder geschieht, zum Inhalt der Gesellschaft zu machen.»[8]

Wir haben gesehen: Auf einer Art hypothetischem Urteil beruht der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft, so Rudolf Steiner 1923. Auch dies: ein exakter Begriff. Es ist ein Vorstand, der in die Freiheit der Initiative sowohl des Vorstands als auch der Mitglieder gestellt wurde. Aus der Vorstands-Hypothese konnte nur Wirklichkeit werden, wenn ganz real zusammengewirkt wurde, d.h., wenn die Freiheit von Peripherie und Zentrum in Gegenseitigkeit tatkräftig ergriffen wurde.

Als Rudolf nicht mehr da war, griffen die individuellen Autoritäten und wirkten sich aus. Es gab Streit und Konflikt. Die Freiheit des Einzelnen trat als Willkür hervor. Die Freiheit der Gegenseitigkeit wurde nicht verstanden.

Individual-Gesellschaft und erweiterter Begriff von «Welt»-Gesellschaft

Einerseits beinhaltete das Nachrichtenblatt das gesellschaftliche Leben selbst [4.2./8.3.], welches von Rudolf Steiner in seinen ‹Briefen an die Mitglieder› [GA 260a] in seinen sozialen Abgründen eindringlich charakterisiert und für bewusste Entwicklung transparent gemacht wurde. Auch in diesen Briefen wird nicht ein prioritäres Verbandsinteresse aufgestellt, vielmehr wird der individuelle Beitrag zum Gelingen des sozialen Ganzen in Betracht genommen.

Wir schauen mit dieser Skizze auf eine gesellschaftliche Praxis, welche das seelische Leben im einzelnen Menschen pflegen[9] will, ganz in dem Sinne, dass die Gesellschaft für den Menschen, für das Individuum da ist – nicht umgekehrt. Die Befreiung des Individuums von den Interessen des Verbands, der Institution, der Gesellschaft, was zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte der Einzelnen[10] führt, ist notwendige Zielsetzung für die Pflege menschlicher Gesellschaft[11] - alles andere wäre nicht menschliche Gesellschaft, sondern Gesellschaft aufgrund von Verbandsinteressen; auch dann, wenn es ‹geistige› Verbandsinteressen wären. Nur mit dieser Voraussetzung der Befreiung der Individualität, die gegenüber dem Verband die Priorität hat, wird ein freiheitlich-verbindliches Zusammenwirken der Einzelnen möglich – Gesellschaft wird dann Resultat der individuellen Bemühungen, nicht umgekehrt.

Gesellschaft ist, so aufgefasst, nie «schon da». Sie entsteht real immer erst durch das individuelle Interesse und Zusammenwirken, jedoch, und dies ist wieder ein entscheidender Neugriff für ein wirklich modernes Gesellschaftsverständnis: nicht für sich und für die Gesellschaft allein, sondern vor allem auch weltoffen für alles, was ausserhalb der anthroposophischen Kreise sich entwickelt.

Rudolf Steiner konzipierte das Nachrichtenblatt so, dass das allgemeine Zeitgeschehen, die Entwicklung der Weltlage, die Angelegenheiten der Aussenwelt, in permanent anthroposophisch vertiefender Reflexion, der positiven Würdigung, aber auch dem wachen Urteil ausgesetzt werden sollte [3.6./3.13./4.2./9.5./9.6./18.2.].

Die positiven kulturellen Leistungen also, gerade auch der Nicht-Anthroposophen, das ganze geistige Leben der Gegenwart [4.2.], sollte Hauptgegenstand der Korrespondenz sein: sodass das, was in der Welt vorgeht, zu dem wird, ‹was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht› [9.5.] – so lautete auch der Titel dieses Organs, eingebettet in den eigentlichen Begriff seiner Aufgabe: derjenigen eines externen Interesses, nach innen, wie nach aussen –, eines Interesses an den anderen.

*

Autorität, die nur auf Vertrauen gebaut ist

Die für eine Organisation mit Freiheit notwendige soziale Technik findet sich in Kürze in folgenden Kernsätzen Rudolf Steiners umrissen:

«Bei allem, was auf dem Boden der individuellen menschlichen Fähigkeiten erwachsen soll, kann nicht ein Gesamtwille in den Einrichtungen zum Ausdruck kommen; sondern diese Einrichtungen müssen solche sein, in denen die Einzelwillen sich voll zur Geltung bringen können.

Der einzelne Mensch muß gewissermaßen wie eine Naturgrundlage sich verhalten können. Man kann nicht über eine Landfläche hin aus Bedürfnissen heraus, die abgesehen von den einzelnen Teilen dieser Landfläche gefaßt sind, diese bewirtschaften; man muß aus dem Wesen der einzelnen Teile kennenlernen, was sie besonders hervorbringen können.» [12]

(Man kann auf einem Boden mit der Beschaffenheit einer Wüste nur ganz bestimmte Pflanzen finden. Eine Magerwiese in den Bergen bietet für bestimmte Pflanzen optimale Wachstumsbedingungen, für andere gerade nicht. Eine fette, satte Wiese im Tal einer gemässigten Klimazone beherbergt durch ihre Eigenart wieder andere Pflanzenarten, die woanders nicht oder nicht recht gedeihen.)

«So muß auf geistigem Gebiete die auf den individuellen Fähigkeiten beruhende Einzelinitiative sich sozial auswirken können; sie darf nicht bestimmt werden durch den Inhalt eines Gesamtwillens. Dieser Gesamtwille muß unsozial wirken, denn er entzieht der Gemeinschaft die Früchte der individuellen menschlichen Fähigkeiten.

Es gibt keinen anderen Weg, die Früchte dieser individuellen Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen, als ihre Selbstverwaltung. Innerhalb dieser Selbstverwaltung kann allein der Zustand eintreten, durch den nicht ein die Fruchtbarkeit der Einzelmenschen für das soziale Leben unterdrückender Gesamtwille entsteht, sondern durch den in das Gesamtleben die menschlichen Einzelleistungen zu dessen Wohle aufgenommen werden.

Innerhalb einer solchen Selbstverwaltung werden sich aus dem Geistesleben heraus die Gesichtspunkte ergeben, durch welche die rechten Menschen an die rechten Stellen gebracht werden und durch welche an die Stelle von Gesetz und Verordnung das unmittelbar lebendige Vertrauen gesetzt werden kann.»[13]

Wir haben gesehen, wie Rudolf Steiner gerade dies praktizierte, indem er individuelle Befähigungen sah und aus diesen den ‹Äussere-Kräfte Vorstand› mit der Korrespondenz-Aufgabe bildete: im vollen Vertrauen auf deren Mitwirken – ohne Vertrag (ohne «Gesetz und Verordnung»). Auch definierte er nicht ‹Fachsektionen› als abstrakte Aufgabengebiete, um diese nachträglich mit Funktionsträgern zu ‹füllen›, welche dann ‹Anordnungen› oder auch nur ‹Richtungsentscheidungen› hätten folgen müssen. Er sah bei Marie Steiner die Befähigung für die Spiritualisierung des Sprechens und richtete dafür ein Aufgabengebiet ein, die Sektion für redende und musizierende Künste, und so bei den weiteren Vorstandsmitgliedern, bzw. Sektionsleitern.

«Gesetz und Verordnung», von Gruppen (Gremien, Kollektiven) oder von deren Repräsentanten über andere (Untergebene) verhängte Ordnungen, müssen vollständig verschwinden. Das lebendige Vertrauen, die individuelle Zuverlässigkeit, wird so kraftvoll werden, dass sie Strukturen und Prinzipien nicht verneint, sondern tragfähig ersetzt. Eine Organisation, wenn sie nicht jederzeit auseinanderfliegen soll, braucht feste Grundlagen. Diese können mit Freiheit geschaffen werden: dann entsteht wirksam freies Geistesleben.

Das ist die Zukunft des Menschen, des individuellen Menschen und damit des heute eigentlich Menschlichen. Denn alles Gruppenhafte und Gemeinschaftliche, welches nicht zentral und uneingeschränkt aus dem Individuellen entsteht, untergräbt dieses Individuelle.

«Die Menschen dazu vorzubereiten, einen Kern für dieses Ziel zu bilden, sie vorzubereiten für eine gemeinsame Weisheit, für eine Autorität, die nur auf Vertrauen gebaut ist, und das Verständnis dafür zunächst in einem kleinen Menschheitskern zu entwickeln: das ist die Aufgabe der Geisteswissenschaft.» [14]

[erschienen in ‹Ein Nachrichtenblatt› Nr. 1, 2018] 

  • [1] Rudolf Steiner bei der Generalversammlung der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft im Jahre 1906, in: Hella Wiesberger (HG), Rudolf Steiner, Das Schicksals jähr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft, GA 259, Dornach 19911, S. 843, und in Beiträge zur Gesamtausgabe, Nr. 105, S. 57
  • [2] In eckigen Klammern […] finden sich die Ziffern der 2017 in ‹Ein Nachrichtenblatt› veröffentlichten Zitatsammlung - [1./8.4.] weist auf : Zitat 1. und Zitat 8.4.
  • [3] Rudolf Steiner, Freiheit und Gesellschaft (1898), in: Gesammelte Aufsätze zur Kultur und Zeitgeschichte 1887-1901, GA 31, Dornach 19893, S. 251
  • [4] Vgl. die Statutenverhandlungen in: Rudolf Steiner, Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/1924, GA 260, Dornach 19945
  • [5] Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit – Grundzüge einer modernen Weltanschauung, seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode, GA 4, Dornach 199516, S. 166
  • [6] GA 260a [1987], Stuttgart, 6. Februar 1924
  • [7] GA 260a [1987], Nachrichtenblatt, 17. Februar 1924
  • [8] a.a.O.
  • [9] § 1 der Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft 1923
  • [10] Vgl. Anmerkung 3
  • [11] § 1 der Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft 1923
  • [12] Rudolf Steiner, Die Dreigliederung des sozialen Organismus, die Demokratie und der Sozialismus, GA 24, Dornach 19822, S. 207
  • [13] a.a.O.
  • [14] Rudolf Steiner, Das christliche Mysterium, GA 97, Dornach 19983, S. 129